Warten

Iveta (42) putzte Büros, stach Spargel und stapelte Kisten. Kein Job war ihr zu schwer. Das Geld sendete sie an ihre Familie in Lettland. Doch was, wenn es keine Jobs mehr gibt?

Spätestens um 9:00 Uhr verlässt Iveta die Wohnung ihrer Freundin. Bis 17:00 Uhr kann sie nicht zurück. Die Freundin muss arbeiten, einen zweiten Schlüssel zur Wohnung gibt es nicht. Am Anfang war das eine echte Qual. Sie wanderte ziellos durch die Innenstadt, ruhte zwischendurch auf Bänken – wartete. Erst durch einen Freund erfährt sie von der Straßenambulanz „St. Franziskus“. Hier entflieht sie der Kälte und kann in Ruhe suchen: Nach ihrer nächsten Anstellung. Als was ist egal.

Sie sitzt seitdem jeden Tag in der Wärmestube der Straßenambulanz. Immer in derselben Ecke, neben der Steckdose, und lädt ihr Handy. Mit silbernen Lidschatten und dick aufgetragenen rotem Lippenstift versucht sie von den dunklen Ringen unter ihren Augen abzulenken. Sie hat sich Schick gemacht. Schickgemacht für die Langeweile. Kaffeeschlürfend starrt sie auf den Bildschirm, stundenlang, durchsucht Anzeigen, ruft an: zwei bis drei Anrufe jeden Tag. Viel mehr gehe nicht, niemand biete Arbeit für Ungelernte. Nicht für Frauen wie sie. Nicht während Corona.

Vor 22 Jahren verließ Iveta das erste Mal ihre Heimat in Lettland, die Hauptstadt Riga. Die Stadt ist circa so groß wie Stuttgart. Die Schule hatte sie grade abgeschlossen. Doch eine wirkliche Perspektive hat hier niemand. Sie lebte außerhalb der Stadt, in einer kleinen Wohnung bei ihrem Vater, als dieser starb, hielt sie nichts mehr dort. Als ihre Freunde sie fragten, ob sie mit nach Holland kommen wolle, zögerte sie nicht und flog mit. Drei Monate erkundete sie mit ihren Freunden Holland. Nicht ein Mal dachte sie an die Heimat. Sie verliebte sich in die fremden Städte: Amsterdam, Rotterdam, Maastricht. Als ihr Pass ablief, flog sie nicht zurück. Per Post verschickte sie ihn zu einem Bekannten; er ließ den Pass erneuern; schickte ihn zu Iveta zurück und sie konnte bleiben. Die Erleichterung nicht zurück zu müssen, feierte sie mit dem nächsten Reiseziel: Deutschland. Fünf Monate lang jobbte sie durchs Land, lernte die Sprache und verliebte sich hier nicht nur in Städte. Als sie schwanger wurde, musste sie zurück nach Lettland. Das war im Jahr 2000.

Inzwischen spricht sie sechs Sprachen. Die Gespräche in der „St. Franziskus“-Ambulanz an den anderen Tischen versteht sie, aber redet selten mit. „So langsam blüht sie aber auf“, meint Bruder Martin, Gründer der Straßenambulanz. Seit 2005 hilft die Straßenambulanz Wohnungslosen in Ingolstadt: hier gibt es Wärme, Essen und Gesellschaft. Auch ihre Anschrift konnte Iveta hier angeben lassen. Seit nun einem Monat wartet sie ungeduldig auf Antwort vom Arbeitsamt. Jeden Tag schleppt sie alle nötigen Unterlagen mit sich rum. In ihrem kleinen Rucksack fliegen Briefe, lose Zettel und ein in Klarsichtfolie eingefalteter Pass durcheinander.

15 Jahre blieb Iveta damals nach ihrem Niederlande-Deutschland Urlaub in Lettland. In Riga wohnte sie in einem drei Zimmer-Apartment. Jeden Tag im Café kellnern und danach im Car-Wash Autos putzen, eigentlich „Männerjobs“ warnten Freunde. Iveta hatte kaum eine Wahl. In neun Jahren bekam sie fünf Kinder: Gita, Märcis, Kristofers, Loreta und Luize. Doch die 300 Euro monatlich reichten oft nur für die „Miete, Brot und Kartoffeln.“ Als die Beziehung mit ihrem Freund zerbrach, genügte auch das nicht mehr. Die Jobsuche trieb sie erneut ins Ausland: Gleiwitz, Polen.

Zwölf Stunden am Stück beaufsichtigte sie täglich die Arbeit in der Opelfabrik Gleiwitz. Ihre Augen litten. Nach der Arbeit verschwamm oft selbst der Bus, der vor der Fabrik hält, vor ihren Augen. Drei Monate arbeitete sie damals als Aufseherin. Übernahm für jeden Fehler, der unter ihrer Aufsicht passierte, die Verantwortung. Ihre Kollegen waren größtenteils Männer. In Überstunden übertraf sie die polnischen Kollegen jede Woche aufs Neue.

Auch in der Ambulanz ist sie als Frau in der Unterzahl. Nur etwa zwei von zehn der Leute, die hierherkommen, sind Frauen. Seit Corona, kommen noch weniger. „Viele bekannte Gesichter, haben wir hier seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie trauen sich einfach nicht mehr her“, erzählt Bruder Martin. So sitzt Iveta oft allein und grübelt. Doch das Alleinsein, stört sie nicht mehr.

Auch in Polen hatte sie keine Freunde, verstand kaum die Sprache und nach stundenlangem Beobachten, fiel sie nur noch erschöpft ins Bett. Sie entschied zurück zu ihrer großen Liebe zufliegen, zu etwas Bekanntem: die Niederlande. Nur im Sommer konnte sie hier arbeiten, doch das Geld reichte meistens über die Saisonpause. Spargel stechen im Sommer, Jobcenter im Winter. Drei Jahre verbrachte sie so in ihrem Lieblingsland.

Auch als sie das letzte Mal von ihrem Bruder hörte, war dieser in den Niederlanden. Der andere war in Großbritannien. Inzwischen lebt er wieder mit seiner Familie in Riga. Alle die dortbleiben, träumten vom Auswandern, erzählt Iveta. Mit ihren Geschwistern schreibt und spricht sie selten, und auch der zu ihren Kindern breche langsam ab. Nur mit ihrer ältesten Tochter, Gita, schreibt sie täglich über Instagram. Sie sprechen über die aktuelle Situation, Geld und Familie. Die anderen Kinder hätten keine Zeit für sie. Auch Lettland ist im Lockdown. Internet hat Ivetas Familie aber nicht. Statt über Zoom für die Schule zu lernen, spielen ihre Söhne draußen mit Freunden und haben keine Zeit, um mit ihrer Mutter zu reden. Die Miete, Brot und Kartoffeln bezahlt inzwischen Gita. Denn das Geld bleibt für Iveta aus.

1500 Kilometer entfernt sucht Iveta so nach einer Anstellung. Zurück zu ihrer Familie fliegen komme für sie nicht in Frage. Das Leben in Deutschland sei zu gut gewesen. Das will sie nicht aufgeben. Sie will nicht aufgeben. Vor vier Monaten verlor sie ihren Job als Putzkraft, konnte schon bald darauf das Wohnheim, in dem sie lebte, nicht mehr bezahlen. Noch darf sie bei einer Freundin unterkommen. Statt in einem drei Zimmer-Apartment, wohnt sie hier in einem kleinen Raum, mit altem Kleiderschrank und engen Bett. Viel mehr passt nicht rein. Das Geld fließt inzwischen in die falsche Richtung. Gita unterstützt ihre Mutter schon seit ein paar Monaten. „Wir versuchen etwas passendes für Iveta zu finden“, sagt Bruder Martin. So lange muss Iveta warten, bis 17:00 Uhr, bis sie zurück in die Wohnung kann, oder bis der Brief vom Arbeitsamt, endlich in ihrem Postfach landet, oder auf den Anruf von der Firma, die sich noch nicht zurückgemeldet hat. Handy bereithalten. Suchen. Kaffeeschlürfen. Warten.

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