Ein Kerl und sein Berg

Statt in eine Kletterhalle geht es für uns hoch hinaus. Bergführer Bernhard Kerl treibt unsere Einsteiger-Gruppe auf die Alpspitze.

„Gibt es einen Punkt, ab dem ich die schweren Wanderschuhe anziehen muss? Ich würde die gerne so wenig wie möglich tragen“, fragt Harald, der älteste Teilnehmer der Alpspitz-Klettersteig-Tour. Noch trägt er bunte Turnschuhe, die seien bequemer. Der Bergführer Bernhard Kerl (54) guckt sich Haralds Schuhe an: „Ich glaube, du solltest lieber die Wanderschuhe anziehen, wir brauchen einen festen Tritt.“ Ohne ordentliche Wanderschuhe will er Harald ungerne mitnehmen.

Kerl hat sonnengebräunte, lederne Haut, ein kantiges Gesicht und graue Haare. Bei der Bundeswehr war er damals Heeresbergführer – musste Soldaten speziell für die Arbeit im Gebirge ausbilden. Inzwischen ist er Metallbauer; die Bergführungen rund um Garmisch macht er nur als Nebenjob – im Sommer ist er allerdings bis zu fünfmal wöchentlich im Gebirge unterwegs.

Auf knapp 2000 Höhenmetern sind wir bereits – bis hier haben wir uns mit der Alpspitz-Bahn hochfahren lassen. Alex, Susann, Lenya, Harald, Rico und ich stehen im Halbkreis um Kerl herum. Harald ist um die 50 Jahre alt, die anderen sind um die 20. Auf einem Klettersteig war noch keiner von uns. Wir halten ein Gewusel aus Bändern in der Hand; der Klettergurt. Kerl steigt erst mit dem einem, dann mit dem anderen Fuß durch die Beinschlaufen und zieht den Gurt dann hoch. Ich stolpere mehr in das Gewusel, als dass ich gezielt in Beinschlaufen trete. Am Ende habe aber auch ich den Klettergurt an.

Kerl erklärt die weitere Ausrüstung: „Das Klettersteigset besteht aus zwei elastischen Bändern mit großen Karabinern…“ Hinter uns flattert etwas. Wir drehen uns um, während Kerl ungestört weiter erklärt. Einer der Gleitschirmflieger, die wir schon in der Alpspitzbahn getroffen haben, läuft an, bis der Schirm genug Auftrieb hat, seine Schritte ins Leere gehen und er Richtung Tal segelt. Kerl knotet, während wir den Flieger beobachten, das Set an seinen Gurt zu einer Vielzahl anderer bunter Karabiner und hakt zwei Karabiner an die Zaunleine und redet weiter: „Stellt euch vor, das ist das Drahtseil am Klettersteig.“ Wir drehen uns wieder zu Kerl um. Der Zaunpfahl, an dem er steht, soll jetzt die Verankerung vom Drahtseil auf dem Klettersteig sein. Um mit dem Zaunseil sicher verbunden zu bleiben und trotzdem an der imaginären Verankerung vorbeizukommen, wechselt er erst den einen, dann den anderen Karabiner an das Seil. Hinter uns flattert es wieder. Wir drehen uns wieder um.  „Bitte nie beide Karabiner gleichzeitig lösen!“ Kerl erklärt ungestört weiter, während wir dem nächsten Gleitschirmflieger zu gucken. Er erklärt was zu tun ist, wenn ein Steinschlag kommt; in welchem Abstand wir im vertikalen Klettern dürfen und wo es lang geht. Einen Weg auf die pyramidenförmige Alpspitze sehe ich zwar noch nicht – aber dafür ist Kerl dabei.

Er packt seinen orangefarbenen Rucksack zusammen, setzt seinen Helm auf und lockert seinen Gurt nochmal, da dieser sonst beim Gehen stört. Er geht los – wir folgen ihm.

Nach einigen hundert Metern baut sich vor uns eine Wand aus grauem Stein auf. Gut zehn Meter; vertikal nach oben. Kerl hakt bereits seinen Karabiner in das erste Drahtseil ein, während ich noch das Band zum Festziehen meines Gurtes suche. Als Alex die unterste Leiterstufe betritt und nach oben guckt, ist Kerl schon fast am Ende der Leiter angekommen. Als ich dran bin, knipst Kerl bereits, ungesichert über die Leiter lugend, die ersten Fotos von uns. Unten am Einstieg sieht man eine Mutter mit Kind – auch sie legen ihre Klettergurte an.

Nach diesem ersten steilen Anstieg geht es ohne Sicherungsdrahtseile weiter. Auf der rechten Seite sieht man das Höllental mit der Zugspitze, Garmisch sieht man nicht. Es wird von einer massiven Felswand blockiert. Auf dieser klettert eine grauhaarige Gams herum – ganz ohne Kletterausrüstung.

Am nächsten Klettersteigabschnitt klinkt sich Alex als Erstes ein. Er darf vorgehen. Nach ein paar Metern bleibt Kerl stehen und blickt nach hinten; an Lenya, Harald, Rico und mir vorbei. Susann fehlt. Kerl klinkt sich aus und drängelt sich ungesichert an uns vorbei. „Alles gut da unten?“, ruft er einen Felsvorsprung herunter. Auch wir bleiben stehen, drehen uns um und lauschen. Von unten keine Reaktion. Er ruft nochmal lauter. Susann ruft endlich zurück: „Ja, ich habe nur Probleme mit den Ohren, ich kann nicht mehr richtig hören!“ Sie drückt an ihren Ohren und blickt die zehn Meter hoch zu ihm. Kerl nickt kurz. Wir warten, bis Susann wieder bei uns ist. Dann drängelt sich Kerl wieder nach vorne und wir ziehen weiter.

Auf dem nächsten Plateau legt Kerl für uns eine Pause ein. „Paprika?“ Lenya reicht eine Tupperdose herum. Fast jeder nimmt etwas. Kerl nicht, er isst seinen eigenen Apfel. Susann drückt an ihren Ohren, hält sich die Nase zu, und versucht so den Druck auszugleichen. Kerl guckt den Klettersteig herunter. Circa hundert Meter weiter unten sieht er zwei Silhouetten. Der Sechsjährige und seine Mutter holen uns auf.

Ab hier gibt es bis zum Gipfel keine Bereiche ohne Sicherung mehr. Nur noch dicke Eisennägel stehen statt den bisherigen Leitern neben dem Drahtseil aus dem Berg hervor. Deswegen gehen wir langsamer; vorsichtiger. Man hört nur die Karabiner über das Drahtseil schaben.

„Aua!“ Lenyas Finger blutet. Sie hat ihn zwischen Drahtsicherung und Karabiner eingeklemmt. Die Website, auf der wir die Tour gebucht haben, hat zwar Handschuhe empfohlen, aber Kerl trägt auch keine; bei ihm sitzt jeder Griff – er verletzt sich nicht.

Er kommt als Erster oben an und wartet am Gipfelkreuz, mit seiner Hand ausgestreckt. „Berg Heil!“ Er drückt jedem die Hand. Wir lächeln, ringen aber auch nach Luft. Kerl macht ein Bild von unserer stolzen, verschwitzten Gruppe vor dem Gipfelkreuz und gibt uns 30 Minuten Pause auf den 2628 Metern. Helme ab, Rucksäcke auf den Boden und Jacken an. Mampfend genießen wir die Aussicht südwärts: scharfkantige Berge, und grau-grüne Täler. Wir füttern die Alpendohlen, die sich um uns versammeln. Nur Kerl isst nichts. Er wartet auf die Gruppe, packt in seinem Rucksack herum und guckt bereits Richtung Nordwand-Abstieg. Das steile Schotterfeld vor ihm verschwimmt in einem dichten Wolkennebel.

Nach der Pause steigen wir genau dort hinein. Kerl schlendert mit verschränkten Armen vor, dreht sich ab und zu um und guckt, ob wir mithalten. Bei ihm sieht es aus wie ein Spaziergang, wir kriechen hinterher. Mit einer Hand stütze ich mich am Boden ab, mit dem anderen Arm muss ich mich ausbalancieren. Nach jedem Fehltritt nur wenige Zentimeter neben den, für mich unsichtbaren Weg, versinkt mein halber Fuß im Schotterfeld, rutscht nach vorne und kleine Steine rauschen den Berg herunter. Kerl rutscht nicht einmal weg.

Ich blicke zurück Richtung Gipfel, die Nebelwand hat sich inzwischen verzogen. Der Sechsjährige hat es auch schon hochgeschafft und ist mit seiner Mutter auf dem Abstieg. „Die sind gut unterwegs, keine Frage“, sagt Kerl und grinst. „Ihr müsst nach rechts!“ Er schreit die rund hundert Meter zu ihnen. Mutter und Kind stoppen; blicken zu ihm nach unten. „Alles klar, danke!“ hallt es zurück. Ich sehe den Weg, den Kerl meint, nicht. Alles ist grau; entweder Fels oder Schotter.

Die letzten Höhenmeter kraxeln wir nun fast schon routiniert – in einer Linie hinter Kerl hinterher. Keine Pausen mehr: Haralds Wanderschuhe passen und Susanns Ohren haben sich längst an den Druck gewöhnt. Einklinken, ausklinken; einklinken, ausklinken. Der Blick ist nur noch kurz an der Drahtsicherung. Den Sechsjährigen verlieren wir ab und zu sogar aus den Augen.

Einer Woche nach der Tour schickt Kerl uns einen Link mit den fast einhundert Fotos. Beim Durchscrollen fällt mir vor allem eins auf: Die steilen, hohen Felswände und epischen Aussichten sehen ganz harmlos aus – wahrscheinlich waren sie das auch.