Der Hirte des Wolfs

Gleich morgens klingelt sein Telefon. Eine Frauenstimme auf der anderen Seite rüttelt ihn wach. Er schwingt sich ins Auto und lenkt es über die nebligen, gewundenen Landstraßen im Landkreis Eichstätt. Er biegt auf einen Feldweg und bringt das Auto zum Stehen. Als er aussteigt, sieht er am Waldrand bereits die pechschwarzen Kohlraben kreisen. Typisch. Er stampft zielgerichtet über das matschige Feld, bis zu dem Ort, wo bis eben noch dutzende Raben gesessen hatten. Hier zeigt sich dem Mann ein finsteres Bild. Ein Rehkadaver, vielleicht eine Nacht alt, liegt auseinandergerissen und blutig auf dem modrigen Acker. Bereits von den Raben und anderen Tieren zerpickt. Gefunden hat ihn der Hund der Frau auf einem morgendlichen Spaziergang. Von einem normalen Spazierweg wäre das trächtige Reh, oder das, was davon übrig ist, nicht zu erkennen gewesen.

Was die meisten Anderen zum Erschauern bringen würde, erfreute Willi Reinbold (69) an diesem Morgen schon fast. Denn für ihn war es damals ein ganz besonderer Nachweis. „Das war der erste Wolfsriss, den wir gefunden haben. Ein Hinweis, dass die Fähe standorttreu wird“, erzählt er. Ein C2-Nachweis vom Wolf: GW1613f.

Das Elternrudel der Fähe „GW1613f“ kommt aus dem Veldensteiner Forst. Nun wird sie schon seit zwei Jahren immer wieder im westlichen Landkreis Eichstätt gesichtet und zwei C1-Nachweise finden sich bereits in der Datenbank der „Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf“ (DBBW). Viele weitere Nachweise, wie Bilder und Losungsproben, lagern noch bei Willi Reinbold zu Hause. Bald gilt die Wölfin als standorttreu. So wie rund 1300 andere Wölfe deutschlandweit.

Genaue Zahlenangaben für die Anzahl von Wölfen in Deutschland gibt es allerdings nicht. Die Zahlen variieren zwischen 1000 und 3000. Bauern- und Jagdverbände greifen gerne höher, NABU und andere Naturschutzbände eher tiefer. „Jeder von ihnen könnte recht haben, das kann man eben nicht genau sagen. Die echte Zahl liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen“, meint Willi Reinbold. Denn allein die Berechnung der Anzahl von Wölfen startet einen Diskurs, der nicht emotionaler geführt werden könnte.

Freuen oder schaudern?

Wenn Willi Reinbold über die Fähe „GW1613f“ redet, merkt man, dass er seine klare Faszination, immer wieder mit einer Art wissenschaftlicher Neutralität drosseln muss. Er freut sich, dass der Wolf zurück in Deutschland ist, und genauso über „GW1613f“ in Eichstätt. Für ihn ist es ein Zeichen gelungenen Naturschutzes.

Er sitzt neben dem Treppengeländer bei sich zu Hause. Das bunt-gefüllte Regal hinter ihm ist voll mit Sachbüchern über Wölfe. Einige drängeln sich bereits quer über die erste Buchreihe, weil sie hier im Regal keinen Platz mehr finden, auf den anderen liegt eine Wildkamera. Die Bücher hat er alle gelesen, einen Großteil sogar noch bevor er Wolfsbeauftragter des LBV wurde. Hier im Flur hat er zurzeit sein provisorisches Homeoffice aufgebaut. Auf ein paar Haribo-Boxen steht sein Laptop, daneben der Drucker. Ständig klingelt sein Handy oder E-Mail Benachrichtigungen leuchten auf. Dass die Rückkehr des europäischen Grauwolfs auch Probleme mit sich bringen würde, ist Reinbold nicht nur bewusst, diese Probleme sind sein Job.

Allein 2020 starben fast 4000 Nutztiere, wie Schafe, Rinder oder auch Fohlen durch Wölfe. 28 davon in Bayern. Angriffe gab es meist dort, wo Nutztierhalter noch nicht auf die Anwesenheit von Wölfen vorbereitet waren.

So starben erst von ein paar Wochen rund um Chiemgau durch den Wolf GW2425m gleich mehrere Nutztiere. Der Landtag entschied die sofortige „Entnahme“. Amtsdeutsch für Abschuss. Die Begründung: der Wolf stelle eine unmittelbare Gefahr für Menschen dar. Es wäre der erste Wolf gewesen, der in Bayern seit 140 Jahren legal hätte getötet werden dürfen. Der Wolf starb am selben Tag, an dem die Genehmigung vom Landtag in Kraft trat. Bei einem Verkehrsunfall, über 300 Kilometer entfernt, in Tschechien.

Reinbold meint, fast ausschließlich Wanderwölfe seien für die Angriffe auf Nutztiere verantwortlich. Wölfe, wie „GW2425m“. Wölfe, die bei einem Entscheid über den Abschuss bereits hunderte Kilometer entfernt sind. Die Abschüsse treffen deswegen oft die Falschen. „Allein deswegen ist der Abschuss von Wölfen kein Nutztierschutz“, meint Reinbold.

Meistens könnten einfache Herdenschutzmaßnahmen die Angriffe auf Nutztiere eindämmen. Laut Reinbold gebe es nie einen 100-prozentigen Schutz, ein Elektrozaun mit Untergrabeschutz könnte allerdings bereits knapp 85 Prozent der Angriffe abwehren. In Verbindung mit Herdenschutzhunden gebe es sogar eine Sicherheit von 99 Prozent. Die Ausbildung von diesen sei allerdings zeitaufwendig.

Willi Reinbold kontrolliert die Spannung eines Herdenschutzzauns. Hier war der Zaun ausgeschaltet. Reinbold ist enttäuscht. Ohne ständige Spannung gäbe es keinen Lerneffekt für den Wolf.

Maßnahmen zum Herdenschutz werden dabei fast vollständig vom Staat finanziert. Auch Risse werden meist kompensiert. Die Kommunikation von staatlicher Seite lässt hier, laut Reinbold, allerdings zu wünschen übrig. Deswegen spricht Reinbold auf Versammlungen mit Bauernverbänden, führt Wolfsexkursionen durch den Wald und spricht mit Weidetierhaltern. Auch durch den Papierwald der deutschen Wolfsbürokratie hilft er ihnen, durch Förderanträge und Schadensausgleiche.

Der Arbeits- und Zeitaufwand für Bauern, beim Bau von Zäunen oder ausfüllen von Anträgen anfällt, kann allerdings nicht kompensiert werden. Die oft aufwendigen Herdenschutzmaßnahmen können besonders von kleineren Unternehmen mit wenig Personal nicht gestemmt werden. Statt sich um Rissgutachter und Anträge zu kümmern, melden sie Risse nicht und kümmern sich selbst um die Problemwölfe. Mit verheerenden Auswirkungen.

Willi Reinbold platziert eine Wolfsattrappe im Wald. Vor einer Exkursion versteckt er häufig zwei Pappaufsteller abseits vom Weg. So kann er bildlich zeigen, wie unsichtbar der Wolf in seiner Umgebung ist. Mit einer echten Wolfssichtung bei einer Exkursion rechnet er nicht. Den Wolf in Eichstätt hat er noch nie gesehen.

Ein Wolfsschutzzaun wehrt rund 85 Prozent potenzieller Wolfsangriffe ab. 90 Zentimeter hoch, mindestens 30 Zentimeter Untergrabschutz und 4000 Volt muss er haben. Der Strom sollte allerdings auch immer angeschaltet sein. Nur so lernt der Wolf, dass Nutztiere nicht in seinen Speiseplan gehören.

Schießen, Schaufeln, Schweigen …

Vermeintlich einfach ist die Alternative „3-S“. Schießen, Schaufeln und Schweigen. Nur selten werden gewilderte Wölfe überhaupt gefunden. Selbst gemonitorte Wölfe verschwinden spurlos.  „Erschossen, Seil rumgebunden und mit einem Stein im See versenkt. Gefunden haben wir den Wolf nur zufälligerweise, weil er trotzdem hochgetrieben ist“, erzählt Reinbold. So z. B. in Sachsen.

So teilt das Thema Wolf auch die Jägerschaft in zwei Lager. Für die einen ist er ein Rivale bei der Jagd, für die anderen ein willkommener Gehilfe, die Gesundheitspolizei des Walds. Ein Rivale wird gerne ausgeschaltet. Wer weiß schon, was nachts mitten im Wald tatsächlich passiert.

Die Abschüsse treffen vor allem die ausgewachsenen Elterntiere von Rudeln. Obwohl die Wilderer einen Abschuss oft mit Herdenschutz gleichsetzen, ist das meistens nicht der Fall. „Wenn sie die Elterntiere töten, überleben meist die Jungtiere, keiner erzieht sie mehr und was Pubertierende machen, wenn sie nicht erzogen werden, sieht man ja auch bei Menschen“, erklärt Reinbold.

Entgegen der Logik zeigen Studien tatsächlich, dass der Abschuss von Wölfen Angriffe auf Nutztiere eher verschlimmern. Alleinstehende Jungtiere versuchen weitaus öfter Nutztiere anzugreifen, als wenn sie von ihren Elterntieren kontrolliert werden, welche bereits gelernt haben, Nutztiere zu meiden. Erst mit der erneuten Ausrottung des Wolfes könnten Wolfsrisse komplett vermieden werden. Das ist allerdings nicht mit EU-Richtlinien und deutschen Umweltgesetzen vereinbar. Mit bis zu fünf Jahren Haft wird die vorsätzliche Tötung eines Wolfs in Deutschland bestraft.

Nicht nur zum vermeintlichen Herdentierschutz werden die Wölfe gejagt. Auch als Jagdtrophäe sind Wölfe gefragt. Bis zum letzten Jahr konnten Jäger Lizenzen in Höhe von bis zu 6.000 Euro in der Sierra de la Culebra in Spanien ersteigern. Nur um einen einzigen Wolf zu töten. Auch auf Webseiten wie „Jagdreisen.at“ kann man sich auch heute noch darüber informieren, wo man noch Wölfe jagen kann: „Ein Natur- und Jagderlebnis, was kein Jäger jemals wieder vergisst.“ Erfahrungsberichte gibt es natürlich auch.

Im September 2021 hat die spanische Regierung ihre Ausnahmeregelung verboten, denn auch hier starben eher die Elterntiere; als größere Trophäe.

Dieser Wolfspelz wurde vom Zoll beschlagnahmt. Woher der Wolf stammt oder wie er gestorben ist, ist nicht bekannt.

In Spanien war Willi Reinbold schon; und in Frankreich und in der Türkei. Überall wo es Wölfe in Europa gibt, versucht er Kontakte zu haben. Ob Schafhirte oder Umweltschützer ist ihm egal. Denn in vielen anderen Teilen Europas war der Wolf nie ausgerottet. Man hat gelernt, mit ihm zu leben. Die Trophäen, die Reinbold von diesen Reisen mitbringt, sind anders: Informationen zum Herdenschutz, zu Wölfen und von Naturschützern.

Mehrere Beutel gefüllt mit Wolfslosungen lagert Willi Reinbold bei sich zu Hause in einem Tiefkühlfach. Einige Jogger und Jäger, die wissen, wie man den Kot von Hundekot unterscheidet, bringen ihn Reinbold sogar persönlich vorbei. Hier lagern sie vorerst, damit Reinbold gleich mehrere Proben zur Analyse senden kann – Mengenrabatt.

Gut getarnt

Auch die Trophäen, die Willi Reinbold hier in Eichstätt jagt, sind andere. Denn zusätzlich zu Vorträgen, Exkursionen und Öffentlichkeitsarbeit für den LBV, koordiniert er das Wolfs-Monitoring in Eichstätt. Seine „Trophäen“ bestehen aus den wenigen Bildern, die er mit seinen Wildkameras jeden Monat von „GW1613f“ macht. Und aus den Sichtungen, die Jogger oder Jäger im Wald machen.

„Aber ganz einfach ist es natürlich nicht, einen Wolf zu erkennen“, meint Reinbold. Schnell könnte man den europäischen Grauwolf mit einem Hund verwechseln. Deswegen seien solche Sichtungen höchstens Hinweise. Um wirklich sicherzugehen, brauche es Kameras.

Er selbst habe erst ein paar Mal frei lebende Wölfe erlebt. In der Lausitz in Sachsen. Die Fähe in Eichstätt hat er noch nie gesehen. „Auch wenn wir eigentlich genau wissen, in welchem Radius sie sich am meisten aufhält, und man das Gefühl hat, sie verlässt dieses Gebiet nie, wäre das ein Sechser im Lotto“, sagt Reinbold. Denn auch wenn es keine Wildnis ist, in die sich der Wolf in Deutschland ansiedelt, in der Kulturlandschaft finde er sich ebenso gut zurecht.

Willi Reinbold kontrolliert eine Wildkamera. Fünf Stück hat er inzwischen im Waldstück im Westen von Eichstätt versteckt. Nur ein paar Jäger, der Förster und er wissen, wo sie stehen.

Wöchentlich wertet Reinbold die Bilder der Wildkameras aus. Führt fast täglich mehrere Telefonate zum Wolf. Hilft auch selbst beim Zaunbau. 30 Cent pro gefahrenen Kilometer bekommt er als Entschädigung für die freiwillige Arbeit, manchmal noch etwas für seine Vorträge.

Das Landesamt für Umweltschutz, welches das Wolfsmonitoring in Bayern leitet, hat ihre Abteilung „Wildtiermanagement große Beutegreifer“ erst vor kurzem von zwei auf einen Wolfsbeauftragten geschrumpft.

Willi Reinbold sagt, er mache alles für die Weidetierhalter und nichts für den Wolf. Von Wolfsmonitoring, zu Exkursionen und Beratungen von Weidetierhaltern. Aber wenn er das Wolfs-T-Shirt trägt, man die Losungen in seiner Gefriertruhe sieht oder das prallgefüllte Regal in seinem Büro, oder das Lächeln auf seinem Gesicht, wenn er die Wolfsbilder zeigt, kann man ihm das nicht ganz glauben.

Die Fähe GW1613f zeigt sich in Reinbolds Kameras meistens nachts, wenn keine Menschen in der Nähe sind. Deswegen sind die meisten Bilder verschwommen oder schneiden die Wölfin nur an.